Donnerstag, 19. September 2013

1981-2006: »Ich gehe keiner politischen Diskussion aus dem Weg.«

2006, 25 Jahre nach der ersten großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten, habe ich 12 Veteranen der westdeutschen Friedensbewegung interviewt. Sie gehen der Frage auf den Grund, was davon geblieben ist. Das Interview erschien in Auszügen in der taz im Oktober 2006. Hier ist es vollständig zu lesen.
Bonn, Hofgarten, 10. Oktober 1981: 300.000 Menschen demonstrierten für Frieden und Abrüstung, gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Europa, die die NATO im sog. NATO-Doppel¬beschluss am 12. Dezember 1979 beschlossen hatte. Es war der Auftakt einer historisch einmaligen demokratischen Protestbewegung, die bei ihrem Höhepunkt zwei Jahre später in West¬deutsch¬land, Holland, Belgien und Großbritannien insgesamt über 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte.

Warst du dabei? Hast du deinen Kindern davon erzählt? Gibt es etwas dabei, worauf du stolz bist, und etwas, dessen du dich schämst? Welche wichtige Erfahrung hast du damals gewonnen? Hat die Friedensbewegung die Welt verändert? Diese Fragen habe ich per E-Mail rund hundert Bekannten aus Aachen, Köln, Bielefeld und anderswo gestellt, und zwölf davon haben geantwortet – zehn Männer, leider nur zwei Frauen. Durchschnittsalter: 51. Vertreten sind die Jahrgänge 1944, 1952 (3x), 1953, 1955 (2x), 1956, 1957, 1960, 1962, 1964.

Die meisten Veteranen des Weltkriegs hatten wenig Hemmungen, ihre Mitmenschen mit Anekdoten aus Kriegszeiten zu behelligen. Die Friedensveteranen sind offenbar viel beschei¬dener: Man hört nur selten, wie jemand sich brüstet, im Hofgarten dabei gewesen zu sein. Fast scheint es so, als sei der Pazifismus der 1980er Jahre im Rückblick als Jugendsünde zu bewerten.
Bei den zwölf, die geantwortet haben, ist das naturgemäß anders (sonst hätten sie ja, wie die anderen 88, geschwiegen). Deshalb zuerst die fälligen Anekdoten aus Friedenszeiten:

Konrad K.: ...ich erinnere mich an die von Menschen überfüllte Poppelsdorfer Allee, und wie sich der gesamte Luftraum über den Menschen mit Hannes Waders Stimme füllte, der dort sang: "Es ist an der Zeit". Ich erinnere mich, wie im Bahnhof ruck-zuck ein Sonderzug nach dem anderen einlief, um uns wieder nach Hause zu bringen, und wie ich den Organisator dieses Ablaufs bewundert habe. Ein Jahr später, im Sommer, gab es stattdessen dann das große Chaos, als man Tausende von Reisebussen auf den Autobahnen abstellte. Spätestens abends beim Fernsehen hatte ich das deutliche Gefühl, ein historisches Ereignis mitgestaltet zu haben.
Friederike D.: Ja, ich war damals dabei im Bonner Hofgarten oder zumindest auf dem Weg dahin, denn der Hofgarten war voll und wir haben nur den entfernten Widerhall der Reden und der Musik im Hofgarten wahrnehmen koennen... Ja, es war eine ganz spezielle Stimmung damals in Bonn. Eine Aufge¬regtheit über so viele ... gleichgesinnte Demonstranten. Ich habe noch immer die Langspielplatte der Bots, die ich dort ... zum ersten Mal gehört habe. Später habe ich alle Bots-Lieder auf holländisch auswendig gekonnt.
Franz S.: Selbst mein Vater, der es stets mit Reinhard Meys »Bevor ich mit den Wölfen heule« hatte, fuhr mit meiner Mutter nach Bonn.
Helmut F.: ...an Blockadeaktionen vor Militäranlagen, z. B. 1986 im Mai und im Dezember vor Mutlangen, im Dezember mit Festnahme und anschließender Anklage wegen Nötigung.

Gleich drei Befragte sprachen spontan von Liedern. Es wurde viel gesungen damals, und wenn man jetzt die Erinnerungen anbohrt, kommen Liederzeilen zum Vorschein: »Ja, auch dich haben sie schon genau so belogen, / so wie sie es mit uns heute immer noch tun« – »Feuer! Vorsicht, man legt Feuer!« – »Wir wollen wie das Wasser sein: / Das weiche Wasser bricht den Stein« – »We Shall Overcome.«
»Apel, wir kommen! Wenn’s sein muss, auch geschwommen!«

»Dass das nicht solche Geschichten bleiben, / ...die man den Ennnn-keln erzählen kann«, warnte Franz Josef Degenhardt schon um 1970.
Vier von den zwölf haben gar keine eigenen Kinder – schon deshalb wird das schwierig mit den Enkeln. Und was könnte man auch erzählen?
Konrad K.: ...dass ich schon im Dezember 1979, drei Tage vor dem NATO-Raketenbeschluss, in Brüssel bei strömendem Regen dagegen demonstriert habe und dass die Leute am Straßenrand geklatscht haben, als wir vorbeikamen...;  wie wir Ostern 1982 bei strömendem Regen in Mönchengladbach demonstriert und gesungen haben: "Apel, wir kommen! Wenn's sein muss, auch geschwommen!"; wie ich im Sommer 1982 auf einer langen Leiter stehend ein riesiges Plakat für die Demo gegen Reagan an die Wand der Aachener Mensa geklebt habe; wie ich im November 1983 versucht habe, den Bundestag zu blockieren, ...  und wie man sich fühlt, wenn man von einem Wasserwerfer umgeblasen wird; wie ich in der Nacht zum Ostersonntag 1984 mit einem Kumpan über ein Baugerüst auf den Aachener Dom gestiegen bin und oben am Dach ein Transparent aufgehängt habe...
Volker H.: ...wie ich zusammen mit ein paar anderen Jusos vor dem Atombunker unter der Kalker Post stand, ausgestattet mit Gasmaske, Fackel und einem Plakat "Kampf dem Atomtod"; wie ich den aus heutiger Sicht etwas bizarren Antrag, den Stadtbezirk Köln-Kalk zur "atomwaffenfreien Zone" zu erklären, in die Bezirksvertretung Kalk einbrachte und ihm nach langem Hin und Her auch zur Annahme verhalf; wie wir unermüdlich Unter-schriften für den Krefelder Appell sammelten; wie wir im Stadtteil Friedenswochen organisierten; wie wir nach jahrelangen Auseinandersetzungen auch die SPD in Richtung Friedensbewegung bugsieren konnten...


Die Pazifisten mit Kindern haben ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Mit Kindern, die die Demos selber noch miterlebt haben, haben sie viel darüber gesprochen und diskutiert. Jüngeren Kindern dagegen war das Thema meist vollkommen fremd, da sie sich die damalige Welt mit den beiden latent kriegsbereiten Blöcken gar nicht mehr vorstellen konnten. Zwei Veteranen haben ihren Kindern nichts von der Friedensbewegung erzählt, sondern nur von der Frauen- bzw. Anti-AKW-Bewegung, weil das ihrer Meinung nach mehr mit dem aktuellen Leben der Kinder zu tun hatte.

»etwas von meinen Überzeugungen in die Tat umgesetzt zu haben...«

Sieben von zwölf (darunter beide Frauen) empfinden im Rückblick so etwas wie Stolz: Darauf, schon 1985 für Gorbatschows Abrüstungsvorschläge geworben zu haben, als Kohl noch glaubte, Gorbatschow sei ein zweiter Goebbels; darauf, »nicht einfach mitgeschwommen zu sein«, »etwas von meinen Überzeugungen in die Tat umgesetzt zu haben«, »Gutes getan zu haben«, »Verantwortung für die Zukunft« übernommen zu haben.
Fünf von zwölf empfinden aber auch so etwas wie Scham – und dabei gehen die Einschätzungen weit auseinander.

Udo H.: Dass wir ... den aggressiven Militarismus (incl. Menschenrechtsverletzungen usw.) des sog. real existierenden "Sozialismus" zu wenig benannt und bekämpft haben.
Lutz H.: Wir hatten etwas naive Vorstellungen von der Rolle der SPD und auch der Grünen, wie der Überfall auf Jugoslawien zeigt. Auch die nationalistischen Tendenzen in mancher Veröffentlichung aus der Friedensbewegung, vor allem die Supermacht-"Theorie", haben Schaden angerichtet.
Konrad K.: Gut, im Rückblick erscheint unsere damalige Angst, Europa könnte in einem "begrenzten Atomkrieg" verheizt werden, etwas übertrieben. Aber man weiß es nicht - vielleicht war die Angst begründet.
Volker H.: Wir waren etwas neurotisch und wähnten uns am Vorabend eines Atomkrieges... Etwas schäme ich mich auch, weil ich nicht erkannt habe, dass die Friedensbewegung so massenwirksam war, weil sie im Kern nationalistisch war. Deutschland sollte nicht zum atomaren Schlachtfeld werden. Das war populär.
Susanne R.: Ja, es gab etwas Überhebliches an mir, nach dem Motto: "Ich weiß, wo es lang geht, und vor allem auch, wie." Ich glaube, ich habe mich nicht immer auf eine Stufe mit den anderen gestellt, die ich überzeugen wollte, sondern etwas höher.
Bernd S.: ...die ungeheure Selbstgerechtigkeit, die wir damals an den Tag legten. Wir hatten - dank Marx, Engels etc. - die Weisheit mit Löffeln gefressen und konnten andere Standpunkte als unseren nur milde belächeln.


Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte sei hier allerdings zu Bedenken gegeben: Das Motiv, Unheil vom eigenen Land abzuwenden, wird erst dann wirklich nationalistisch, wenn man das gleiche Unheil einem anderen Land bzw. Volk ausdrücklich an den Hals wünscht – und davon war die damalige Friedensbewegung weit entfernt. Den Menschen war damals wie auch sonst immer das eigene Schicksal wichtiger als das eines anderen Landes wie Jugoslawien. Eine gewisse Überheblichkeit hat wohl die Aktivisten sämtlicher vergleichbarer Bewegungen ausgezeichnet – ohne die kriegt man offenbar keine solche Bewegung zustande.

»Menschen können etwas bewegen, wenn sie zusammenstehen.«

Ziemlich einig sind sich die zwölf bei der Frage, welche wichtige Erfahrung sie aus der Friedensbewegung für ihr weiteres Leben gewonnen haben:
Udo H.: Immer selbst denken und dann handeln!
Friederike D.: Ich habe mit meinem Sohn und anderen jungen Leuten über alle politischen Themen diskutiert und versucht, sie die Kunst der politischen Auseinandersetzung zu lehren. Ich gehe keiner politischen Diskussion aus dem Weg.
Franz S.: Wenn etwas vorangebracht werden soll, muss es organisiert werden. Menschen können etwas bewegen, wenn sie zusammenstehen. Ich habe gelernt, auf die Sprache der Bushs, der Stoibers und der Strucks zu achten. Das nimmt mir keiner mehr. Das vergesse ich nie. Das gebe ich weiter.
Susanne R.: Einsatz lohnt sich. Es ist gut, eine Überzeugung zu haben und Gleichgesinnte zu finden. Gemeinsam macht es viel Spaß. Ich kann im "Kleinen" etwas bewirken.
Dominik B.: Gegenwehr en masse kann schaffe (ist das schwäbisch-französisch?).
Nikolaus B.: Es ist wichtig, sich eine Meinung zu bilden, und sie öffentlich zu vertreten, aber in strategischen Fragen ist man machtlos.
Helmut F.: ...dass man im solidarischen Handeln mit großen Gruppen wirklich etwas bewirken kann, und sei es nur das Lahmlegen einer Militärkaserne...

In diesem Feld der politischen, demokratischen Kultur sehen die zwölf Veteranen auch am ehesten das Stück Welt, das sie als Friedensbewegung verändert haben:
Udo H.: Ja, zumindest die politische Diskussionskultur in Deutschland hat sie beeinflusst...
Franz S.: Ich glaube, die Autoritätshörigkeit hat nachgelassen.
Nikolaus B.: ...dass im Verlauf der 80er Jahre breite Teile der Bevölkerung politischer wurden, sich nicht nur als Privatleute begriffen, sondern als Teil der Gesellschaft...
Helmut F.: Sie hat nicht die Welt verändert, aber für eine Phase das politische Klima.

Also das, was Bundeskanzler Schröder später so gerne die »Zivilgesellschaft« genannt hat, wurde offenbar maßgeblich von der Friedensbewegung, aber auch von der Frauen-, Anti-AKW- und Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahre geschaffen. Nikolaus B., der jüngste der zwölf, erinnert an einen Aspekt, den nur die Friedensbewegung hatte:
Außerdem ist unter jungen Männern damals die Diskussion um das Wehrdienstverweigern so richtig aufgeflammt. Mann war gezwungen, Stellung zu beziehen.
Bonn 1981, London 2003

Aber hat die Friedensbewegung auch dort etwas bewirkt, wo sie hauptsächlich wirken wollte: in der Frage von Krieg und Frieden? Da gehen die Einschätzungen weit auseinander. Zwei Veteranen äußern die Vermutung, dass der europaweite Widerstand gegen Bushs Irak-Krieg eine späte Frucht der Friedensbewegung war. Friederike D., die als Dozentin in London lebt, zieht eine Linie von den 300.000 in Bonn zu den 400.000, die 2003 in London gegen Blairs und Bushs Kriegspolitik demonstriert haben.
Vier sprechen vom Zerfall der Sowjetunion, aber kontovers:
Konrad K.: ...dass Gorbatschow wahrscheinlich nur deshalb in der Sowjetunion an die Macht kommen konnte, weil die Friedensbewegung zuvor der jahrzehntelang gepflegten Russenfeindschaft in Deutschland den Boden entzogen hatte... Ohne es zu wollen, hat die Friedensbewegung mitgeholfen, den Ostblock aufzulösen.
Bernd S.: Die Friedensbewegung hat wenig verändert. Die Abrüstung kam letztlich dadurch zustande, dass die Sowjetunion pleite war.
Lutz H.: Wegen unserer Schwäche ist die Sowjetunion zusammengebrochen.
Volker H.: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die von vielen Friedensfreundinnen und Freunden erwartete Friedensdividende ausgeblieben. Dafür hat die Anzahl der tötungsintensiven Konflikte zugenommen.


Trotz ihres fortgeschrittenen Alters sind die Friedenstauben von damals gar nicht so müde, wie der Schlagersänger Hans Hartz einmal behauptet hat. Was kann man tun, um Frieden, Abrüstung und andere Ziele von damals doch noch zu verwirklichen?
Udo H.: Vor allem über alle zur Verfügung stehenden Multiplikatoren an die Jugend wenden!
Siegmund M.: Sich aktiv beteiligen an Aktionen und Demonstrationen, die Teile der heutigen jungen Menschen auch bewegen (Gegendemo - Neonazis). Singen.
Dominik B.: Uns auch aktuell mehr einmischen - mit Gesang z. B.
Nikolaus B.: Debatte um die Wehrpflicht, um Auslandseinsätze der Bundeswehr, bzw. von Nato-Truppen. Forderung: Internationalen Handel mit Kriegswaffen nach Afrika und Asien, Ozeanien radikal verbieten...
Volker H.: Bei einer neuen linken Bewegung im Zeichen der Aufklärung wäre ich gerne dabei, wenn auch mit etwas weniger persönlichem Elan als früher.

Jens Jürgen Korff
Bielefeld, 6.10.2006
info@korfftext.de

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